August 5, 2021

HINTERGRUND

HINTERGRUND

COMEBACK-Stipendium 08/02 - 07/05/2021

Anfang Februar, Gallusstr. 10, Palais Thurn & Taxis, Künstlervereinigung, Ex-Gärtnerhäuschen, jetzt Büro, Werkraum, Atelier.

(Dieser 2-Meter-Stern, den du hier oben siehst, forme ich immer wieder aufs neue [gleich], sobald ich ein neues Studio beziehe, seit ich ihn das erste mal vor fast 40 Jahren in meinem ersten, eigenen Atelier in Cadaques, zurechtwinkelte.)

Es ist kalt, richtig kalt. Ich verbringe einige Tage vor dem Ofen, heize und lese, und komme erst langsam in der Frage an, die mich hierher brachte:
Wie kann ich die Stadtkarte, die ich für Lecce in Workshops mit und für Geflüchtete und Touristen entwickelte, in den hiesigen Kulturraum übersetzten? Also, die Karte als „ethisches Skelett“ gesehen, nicht als „ästhetisches Format“.
Ich weiß, ich muss dafür viele Leute treffen. Menschen, die ich Gestalter einer gemeinsamen Lebensqualität nenne. Einige schweben mir vor, von anderen weiß ich noch gar nicht, dass es sie gibt.

SPANNEND. ICH FREUE MICH, ALS BEGÄNNE HEUTE DIE KUNST!

Ich habe noch keinen blassen Schimmer, was am Ende dabei herausschauen, bzw. beginnen wird. Ich weiß nur, es soll sich wieder nachhaltig einmischen, das „Weltbild“ auffrischen“ und „Empathie einladen“ - wie die Karte, nur eben von und für Hier. WO BIN ICH?
Schön ist es hier drin, schön kalt. Aber der Ofen macht seine Arbeit gut. Es macht Spass, mich neu ein- und auszurichten. Ich werde gefragt, ob ich noch etwas brauche, wünsche. „Eine Couch wäre fein, so könnte ich darauf gemütlich lesen, und Gäste empfangen.

Wenige Tag später kommt ein altes, rotes Sofa vom Theater-Bregenz an! Das passt ganz wunderbar in die Mitte meines noch in den Wolken schlummernden Projektes.

Mit im Gepäck: ein Stapel Bücher, die gesamte künstlerische Ausbeute (sehr mager) meiner Tumor-Zeit, und viele bunte, fluoreszierende Filzstifte.
Ich weiß nicht wie, aber ich weiß, dass ich dieses Material aus meiner Zeit im Bett, im Magazin4, wo ich im Herbst eine „Ausstellung schuldig“ bin, zeigen will. Zusammen mit dem Projekt, dass ich die kommenden drei Monate zu fassen bekommen möchte.
Es wird wärmer! Und kälter! Es taut so schnell, wie es alles wieder zuschneit. Ich staune. Und merke, dass ich schon 40 Jahre nicht mehr so lange am Stück in Vorarlberg war. 3 MONATE!

Das, hier unten, ist eine Miniaturversion von Seite A - dieser, 5 x vertikal, und 4 x horizontal, gefalteten - Stadtkarte von Lecce. Nachdem ich sie endlich fertig hatte, übergab ich sie in einer feierlichen Präsentation meinen Afrikanischen Freunden Amadou und Issa, die sie dann wiederum an ihre Kollegen im Netzwerk von Straßenverkäufern weitergaben.
Ohne diesen illegalen, aber offiziell geduldeten Straßenverkauf, sähe es in Italien noch viel düsterer aus. Und ich wollte mit dieser Karte ein Produkt entwickeln, dass in vielerlei Hinsicht Sinn macht. Und die Würde derer betont, die sie jetzt exklusiv in den Straßen verkaufen. Und eine elegante Brücke zu den Eingeborenen und den Touristen schlägt.
DIE AFRIKANER ZEIGEN UNS JETZT, WO‘S LANG GEHT.
Mehr dazu unter: www.omiotu.com/leccebilita_map

Da liegt sie - meine „gesamte künstlerische Ausbeute“, die ich während meiner Tumor-Zeit „erarbeitete“: Medikamenten-Listen, kleine „Zufallsbilder“, und die Abziehbildchen mit den verabreichten Pharmaka drauf. Die erhielt ich täglich, zusammen mit den vielen, bunten Pillen, in der HUMANITAS-UNIVERSITÄTS-KLINIK in Milano, während der Wochen rund um meine Stammzellentransplantation.

Meine Recherche nimmt Fahrt auf. Ich kaufe die MARIE und die KULTUR, und stoße so auf interessant klingende Inhalte und Namen von „Lebensqualitäts-gestalter“, die ich besuchen oder zu mir einladen will.

Mail-schreib und Anruf-Zeit! Ich kontaktiere in wenigen Tage rund 20 Personen, erzähle von meiner Ausgangsfrage, und bitte sie mir kurz zuzuhören und mir ein spontanes Feedback zu geben. Davon sind 7 Leute alte Bekannte von mir. Zu meiner großen Freude, die mich das erste mal eine Projektfrucht ahnen lässt, bekomme ich von (fast) niemandem einen Korb. Es kann losgehen!

WAS WÜRDEST DU SPONTAN SAGEN, IN WELCHEM KONTEXT SOLLTE ICH MICH HIER ALS KÜNSTLER EINMISCHEN?

Mit den Begriffen des Immunen und des Kommunen finde ich eine schöne Wortbrücke zwischen dem intimsten und privatesten und dem politischen und öffentlichsten.
Es gibt nur ein Leben, nicht viele. Und jetzt, im „Covid-Leben“ wissen auch alle etwas damit anzufangen. Nicht nur der, dessen ausgetauschte Stammzellen, sein Immunsystem, bzw. sein Leben rettete.

IMMUNSYSTEM, KOMMUNSYSTEM.
Die fluoreszierenden Linien, links über den vielen Pharmaka-Abziehbildchen zeichnen das oszillierende Bild einer gerade noch geretteten Niere.

Jede Woche treffe ich zw. 5 und 10 tolle Menschen. Und komme meiner Ausgangsfrage, via immer spannenderen Antworten und spontanen Ideen, näher.

DAS ROTE SOFA HAT DIE IDEEN! Noch nie nahm ich so direkt wahr, dass Ideen „dialogische Früchte“ sind. Mehr noch - je länger ich mich mit Personen, mit ganz verschiedenen Arbeitsfeldern und Projektschwerpunkten, austausche, die aber alle ein ganz ähnliches „ethischen Bewusstsein“ haben, desto mehr stellt sich das Projekt, das ich suche, als gefunden dar. Es entsteht wie von selbst aus diesen Gesprächen! Immer noch fühlt es sich eher vage an, aber es formt sich Dialog für Dialog aus. Und ich staune wie viele Menschen, mit denen ich (auch „auf der Straße“) spreche, ihre Arbeit lieben! Und auf wie viele „transnationale und kosmopolitische Haltungen“ ich hier stoße.

IN DIESEM KLEINEN VORARLBERG LEBEN MENSCHEN AUS ÜBER 150 NATIONEN!

Klar, auch deshalb ist dieses Land so reich.

Unten - sämtliche Medikamenten-Listen über ca. 18 Monate. Einst waren es 17 verschiedene Pillen, jetzt sind‘s nur mehr 3. Mit der Liste, die ich jetzt erstelle, will ich das Spiel mit diesen Blättern beenden. Und auch im Magazin4 zeigen.

Seit der ersten Woche arbeite ich parallel auch intensiv an der Rettung von VINDEX - SCHUTZ UND ASYL mit. Denn obwohl sich dieses Land so multiethnisch und in vielem offen zeigt, hat es auch ein Problem mit Provinzialität und Spießigkeit.
Dieser Widerspruch macht auch Vindex zu schaffen, weil ein wichtiger Sponsor absprang, und die Landesregierung nicht in die Presche springt. Deshalb geben wir uns alle Mühe, und organisieren eine große Kunstauktion - Win/Win: 50% geht an Vindex, 50% an die Künstler*innen - so dass Vindex - Inchallah! - seine wichtige Arbeit fortsetzen kann. Mehr dazu unter: www.rettetvindex.at

Hier unten siehst du (weit nicht) alle Post-its mit den Namen all derer, die ich auf ein Gespräch einlud. Und weiter unten siehst du den Plan, der sich auf Grund dieser Gespräche Schritt für Schritt selber zeichnete und beschrieb:

DER PLAN FÜR DEN KREISSAAL.

Der KREISSAAL ist eine Art gemütliches Parlament - ein großer Kreis mit alten Sofas und Sesseln (Möbellager der Caritas in Altach sei Dank!) - in dem sich alles um eine zentrale, komplexe Frage und Geburt drehen soll:

Wollen wir - aus unserem zivilgesellschaftlichen Selbstbewusstsein und unseren täglichen Konsumgesten - ein alternatives Kulturbudget, bzw. eine transformatorische Kraft generieren, die uns erlaubt all jene Projekte zu fördern, die jetzt durch die kulturpolitischen Maschen fallen?

Auf den Begriff KREISSAAL, damals aber noch richtig als KREIßSAAL geschrieben, stieß ich in einem wunderbaren Gespräch mit Julia Felder, der jungen, Vorarlberger Friedensforscherin (undundund..) , auf die ich im verlinkten Marie-Interview aufmerksam wurde. Julia erwartet in den kommenden Wochen ihr Baby. Ihr kugelrunder Bauch war wohl im Zentrum unseres Dialoges.. aber nicht als Thema, sondern als Energie.. und so kam es, dass Julia plötzlich dieser Terminus aus dem Mund fiel :-) Perfekt. danke nomol! :-***

Mehr will ich jetzt noch nicht verraten, oder besser gesagt, kann ich noch gar nicht sagen, weil ich erst in den kommenden Tagen und Wochen, das Konzept und das Programm, in einem Ping-Pong-Prozess mit meinen leidenschaftlichsten Kritiker*nnen der letzten drei Monate, dafür entwerfen will; mit 10 - 15 Personen aus dem obigen Post-it-Mosaik.

ES IST JETZT WIRKLICH, RICHTIG FRÜHLING GEWORDEN!

Vor 3 Monaten sah ich vor dem großen Fenster der kleinen, feinen  Wohnung in der Gablerstr. im Weidach, ein altes Bauernhaus, jetzt sehe ich nur mehr einen alten, blühenden Apfelbaum. Und werde immer kurz nach 4 Uhr Früh von den quietschfidelen Amseln geweckt. Die Zeit verging im Fluge! Ich muss packen und die Räume (auf)räumen! Das da unten war mein Homestudio, die Entwurfsstube.

Und das hier unten sind 2 der vielen wunderbaren Bäume des kleines Parkes hinter dem Palais Thurn & Taxis. Wie schön sich dieses Land in den letzten 40 Jahren gemausert hat! Als ich damals loszog, so erzählt es meine Erinnerung, war das eine graue, langweilige, kriegsversehrte und -traumatisierte Gegend.

JETZT SIEHT ES AUS, WIE EINE GROSSSTADT MIT VIEL GRÜNFLÄCHE.

Der Kreissaal will dazu beizutragen, dass das so bleibt, bzw. noch bunter wird!

DANKE,
Judith Reichart, Elisabeth Dobler, Marion Pfeiffer, Susanna Koch, Susanne Fink, Dagmar Scheiderbauer, Francesca Eugeni, Kirsten Helfrich, Bella Angora, Cary Baschnegger, Winfried Nussbaummüller, Klaus Begle, Eva Grabherr, Eva Fahlbusch, Teresa Alonso Novo, Hanno Loewy, Sigi Ramoser, Paul Winter, Margaritha Matt, Edgar Eller, Michael Ritsch, Stephanie Gräve, Thomas D. Trummer, Kurt Dornig, Amelie Baschnegger, Bertram Meusburger, Verena Konrad, Sabine Birkel, Erhard Witzel, Ingrid Bertel, Florian Fulterer, Brigitte Flinsbach, Bettina Gabert, Christoph Seiner, Markus Dorner, Birgit Humpeler, Christoph Kutzer, Hubert Dragaschnig, David Cañavate Cazorla, Rita Moosbrugger, Maria Simma, Bennie Weber, Esche Leissing, Wilfried Korioth, Christoph Dorner, Daniela Egger, Conny Steurer, Willy Meusburger, Nico Kantner, Hubert Matt, Ariane Grabherr, Dieter Egger, Ursula Sabatin, Christine Lederer, Günther Greussing, Hans Peter Martin, Stefania Sorrapera, Julia Felder, Manuela Ortner, Hans Joachim Gögl, Necla Güngörmüs, Karin Kaufmann, Thomas Häusle, Lucia und Daniel Lienhard, Martin Strele, Barbara Keiler, Simon Vetter, Pfarrer Stefani, Frauke Kühn, Jutta Berger, Carina Jielg, Martin Hartmann, Cassandra Frener, Peter Mennel, Lisi Hämmerle, Julia Jussel, Gertrud Hollenstein, Ingrid Delacher, Radio Proton, und alle, die ich jetzt in der frohen Eile vergessen habe.

GRAZIE MILLE.                                 tOmi Scheiderbauer, Lecce am 14/05/2021